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In einer immer digitaleren Welt kommunizieren wir meist über Texte, Bilder und Töne. Zum Aufbau unseres Netzwerkes müssen wir aber alle unsere menschlichen Sinne beisammen haben. So wie beim räumlichen Sehen erhalten wir nur so ein komplettes Bild von unserem Gegenüber.

Multi-Kulti – Design ohne Grenzen

Vor mir sitzt Dimitrij, gerade 37 geworden. Er ist geboren und aufgewachsen in Sibiren. Mit 12 zog es seine Familie nach Isreal, wo er sich Schule und Studium selbst finanzieren musste. Über London ist er vor zwei Jahren mit seiner Frau nach Berlin gekommen. Hier fühlt er sich wohl, baut seine eigene kleine Firma auf.
 
Dimitrij ist Industrie-Designer. Und zweifacher Migrant, wie er selber betont. Auf seinen Armen und sogar den Hals hinauf sind Tatoos zu sehen, die an grafische Muster oder Barcode-Botschaften erinnern. Sein Haar ist kurz rasiert, die Stoppeln passend zum 3-Tage Bart. Wache Augen blicken mir durch seine Designer-Brille direkt ins Gesicht. Wir sprechen Englisch, wie so viele in Berlin.
 
“Ich möchte den Menschen ihre 5 Sinne wiedergeben” antwortet Dimitrij auf meine Frage welche Philosophie seinen Produkt Designs zugrunde liegt. “Schon Aristoteles hat uns gelehrt dass wir Menschen sehen, hören, tasten, riechen und schmecken können. Mit unseren Mobiltefefonen, die ständig vibrieren, sind wir beim Sehen, Hören und jetzt auch schon beim Tasten angekommen. Für mich fehlen da nur noch zwei Sinne.”
 

Design verändert unsere Welt

Und dann dieser Satz: “Good design is about shaping people’s lives by changing bad habits with careful mind reading and measured creative decisions.” Es geht Dimitrij also um unser Verhalten, das besser werden soll durch gutes Design.
 
Es passt zu ihm, dass Dimitrij als Designer eine UX-Agentur betreibt. Eine Firma also, in deren Mittelpunkt das “User Experience”, das digitale Nutzererlebnis, steht. Sein ganzes Schaffen konzentriert sich darauf, alle technisch verfügbaren Mittel und Kommunikationskanäle dafür nutzbar zu machen um uns Menschen auf mehr als nur einer Ebene zu erreichen. Zu “berühren”, auch unterbewußt. Farben, Formen und Abläufe spielen dabei eine große Rolle. Manchmal auch die Kreation von Düften, die er über eigens konzipierte Mailings zu den Menschen bringt.
Meist aber gestaltet er die grafischen Oberflächen von mobilen Apps, versucht dabei komplexe technische Abläufe einfach und intuitiv zu vermitteln.
 
“Wir Designer stehen noch am Anfang”, gibt Dimitrij offen zu. “Denn das hier….,” er zeigt kurz auf uns beide als Personen und schließt dann mit einer weitausholenden Geste das Café ein, in dem wir frühstücken, “… das hier ist nicht so leicht digitalisierbar. Menschen begegnen sich immer mit allen ihren Sinnen, und das kriegt die Maschine -noch- nicht übersetzt.”
 

Die 5 Sinne besser einsetzen

Wenn wir Menschen live begegnen, uns in die Augen sehen dabei, können wir nicht nur wahrnehmen ob der andere angenehm riecht oder etwa einen festen Händedruck besitzt. 
 
Wir sind auch einfach “näher dran” und können auch auf grundsätzlich auch digital transportierbaren Ebenen mehr erkennen: Ein Flackern im Auge, zum Beispiel. Oder ob das Gegenüber unserem Blick standhalten kann. Ob das Gesprochene zum Ausdruck der eigenen Augen passt oder wie die Person sich gegenüber Dritten verhält. Um nur ein paar Beispiele zu geben.
Oder wir erfassen einfach insgesamt mehr, z.B. in unserem Fokus der ruhige Blick des anderen aber nebenbei entdecken wir dessen nervös nestelnde Hände.
 
Gemeinsam Besprochenes kann auch anders eingeordnet werden wenn sich die Physiognomie unseres Gegenübers in der Diskussion verändert. Die Gesichtszüge offen oder verschlossener werden. Oder wenn aus dem zupackenden Händedruck am Anfang, ein feuchter flüchtiger Abschied am Ende geworden ist.
 
Und wer kennt das nicht: das Foto des Gegenübers aus den digitalen Platformen stellt sich schon bei der ersten Live-Begegnung als leicht veraltet, seltsam unpassend oder einfach stark bearbeitet heraus. Sofort entsteht bei uns dann eine ganz eigene Art von “Augmented Reality” im Kopf, zum visuellen Eindruck gesellen sich unsere Gedanken. In Sekundenbruchteilen fragen wir uns wieso sich das digitale Bild so sehr von dem jetzt erlebten unterscheidet. Ist das Nachlässigkeit, ist das Zufall oder Eitelkeit? Wie ist diese Person eigentlich in Wirklichkeit?
 
In tatsächlich stattfindenden Mensch-zu-Mensch Begegnungen können wir aber nicht nur unsere 5 Sinne besser einsetzen oder miteinander kombinieren. Es gibt weitere Sinnes-Ebenen, für die es noch viel weniger eine digitale Übersetzung gibt.
 

Jenseits der 5 Sinne liegt der Schlüssel

Bereits Anfang des 20. Jahrunderts definiert der Anthroposoph Rudolf Steiner insgesamt sogar 12 Sinne. Dabei führt er zum Beispiel die Begriffe “Erkenntniss-Sinne”, oder “oberen Sinne” ein. Diese Sinne ergänzen unsere mehr physiognomisch-physikalischen Berührungspunkte mit unserer Umwelt um eine Art geistig-zwischenmenschliche Komponente der Kommunikation. Im Kern geht es darum dass wir als Individuen in der Lage sind Emotionen durch Sprache und Gestik auszudrücken (Empathie), uns in den anderen hineinversetzen können (Verstehen ohne einverstanden zu sein) und sogar Eins zu werden mit den Gefühlen des Anderen.
 
In jüngerer Zeit haben die beiden US-Psychologen John Mayer und Peter Salovey den Begriff “Emotionale Intelligenz” geprägt, den sie sogar mit einem in den U.S.A. sehr populären Test-Verfahren meßbar gemacht haben.
 
Intuition, Erkenntnis-Sinn, Bauchgefühl oder soziale Kompetenz. Wie wir es benennen ist letztlich nicht so wichtig. Fest steht dass wir ohne eine echte physische Begegnung mit Menschen auch nur eine eingeschränkte Sicht auf unser Gegenüber erhalten können. Sehen, Hören und das ewige Vibrieren unserer Handies sind oft nicht nur normiert (=vorgegeben von den jeweiligen digitalen Platformen bzw deren Designern), sie berauben vor allem uns der Einsatzmöglichkeiten für unseren siebten Sinn oder den “Nasenfaktor”.
 

Netzwerk-Aufbau braucht mehr 6, 7 oder 8 Sinne

Wenn wir uns vor Augen halten wie wichtig unser Netzwerk ist, beruflich aber auch privat. Ja, daß von guten Beziehungen bis ins hohe Alter sogar abhängen kann wie lange wir leben. Wenn wir uns also der Bedeutung unseres Umfeldes für unser Wohlbefinden und unseren Erfolg vor Augen führen ist es zumindest riskant sich nur auf den Fortschritt der Technik zu verlassen. Und alles wie im Schneckenhaus von zuhause zu erledigen.
 
Ich blicke mich um und schaue auf die vielen Berliner Kreativen in unserem Café. “Das ist es”, denke ich beim Anblick des lebendigen Surrens der Stimmen im Raum. Ich bin froh statt eines Chats ein Live-Treffen mit Dimitrij unternommen zu haben. Er und seine Kollegen werden noch viel Ihrer globalen Erfahrungen einbringen um den Maschinen alle Sinne zu lehren. Bis dahin bin ich dankbar für mein Bauchgefühl.